In der ersten Aprilwoche sind wir in Khao Lak, Thailand, angekommen. Viel Zeit haben wir hier nicht, da das Leben in dieser Pauschaltouristen-Kolonie ziemlich teuer ist und wir aufs Budget achten müssen.

Unsere Mission: Schnorcheln! Die Touren zu den Similian oder Surin Inseln erfordern allerdings ein Speedboat, das wegen der Erschütterungen unterwegs nichts für Kinder unter drei Jahren ist. Also muss Anne, die Korallenbegeisterte von uns, wohl oder übel alleine losziehen. Zu Hause in Deutschland ist ein halber Tag ohne Mama für Theo noch erträglich, hier auf der Reise ist er allerdings sehr anhänglich. Und nun geht es schon um einen ganzen Tag. Ob das klappt…?

Am Abend vorher versuchen wir, es ihm zu erklären: “Mama ist morgen bei den Fischen.” Darunter kann er sich wahrscheinlich nichts vorstellen. Immerhin grinst er zurück.

Im Folgenden protokolliert Anne ihre Gedanken den Tag über. Zwischendurch gibt es immer ein kurzes Update über den Stand bei den zwei Männern zu Hause (kursiv)

7:00 Uhr

Theo hat kurz geweint, als ich gegangen bin. Es war echt schwer, mich von ihm zu lösen. Ich habe vor der Tür gewartet, bis er sich beruhigt hat. Jetzt sitze ich im Minibus zum Pier und frage mich, ob er wieder weint. Florian meldet sich über Whatsapp: Alles ist gut. Die Trennung scheint für mich schwerer zu sein als für Theo.

7:20 Uhr

Das nächste Paar, das einsteigt, hat ein kleines Baby inklusive Kinderwagen dabei. Sicher nicht viel älter als sechs Monate. Den Kopf kann es gut halten, der Rest ist aber noch sehr unkoordiniert. Ich frage mich, ob ihnen klar ist, welche Tour sie gebucht haben. Oder waren wir zu vorsichtig und hätten wir Theo auch mitnehmen können?

7.30 Uhr 

Anne ist gerade raus, Theo kaut gemächlich sein Käsebrot.

07:30 Uhr

Nein, Nein.
Es ist gut, dass ich alleine gehe und nicht wir alle drei. Theo bekommt einen ganzen Papa Tag anstatt einen Tag voller Verbote und “NEIN”s. Auf dem Boot müsste er den ganzen Tag still sitzen. Völlig unrealistisch.

8:10 Uhr

Wir sind am Pier angekommen und es werden immer mehr Leute. Missmutig denke ich: Wahrscheinlich drängeln wir uns nachher zu dreißigst im Wasser um den einzigen Fisch weit und breit. Und dafür lasse ich Theo alleine zu Hause?

Als Kind bin ich in Ao Nang mit meinem Vater Schnorcheln gewesen. Noch vor Massentourismus und großer Umweltzerstörung. Das Meer war ein einziger Garten voll wuseligem Leben. Ein Erlebnis, so einprägsam, dass ich es nie vergessen kann. Seither habe ich oft versucht, diese Erfahrung zu wiederholen. Aber diese hier macht mir bisher wenig Hoffnung.

8.15 Uhr

Theo hat Spaß beim Ball spielen, ein netter Gast gibt ihm einen Frühstückssaft aus. “Mama”-Rufe kommen nur noch sehr vereinzelt.

8:25 Uhr

Whatsapp-Check: Papa hat ein Video geschickt. Theo geht es gut. Er trinkt glücklich seine Milch.

8:35 Uhr

Erkenntnisse nach dem Check-In: Hier ist alles super organisiert. Alles ist in ausreichender Menge vorhanden. Sogar Schuhe in Extragrößen.

Neben mir regen sich ein paar junge Deutsche darüber auf, dass zwei Kinder im Alter von fünf und acht Jahren mitfahren. Es könnte ja was passieren. Das Baby inklusive Kinderwagen haben sie wohl noch nicht gesehen.

In diesem Alter würde ich Theo gerne mitnehmen. Habe wir Deutsche zu viel Angst? Ich bediene mich jetzt erstmal beim Frühstück.

9.00 Uhr

Rückkehr ins Zimmer. Eine Erinnerung scheint einzusetzen: “Mama! Mama! Mama?” Ich erinnere: “Mama ist doch bei den Fischen, Theo.” Vorerst keine weiteren Fragen.
Wir ziehen die Badehosen an und machen uns auf den Weg zum Strand.

9:20 Uhr

Alle werden entlang der Sprache in drei Gruppen aufgeteilt: Deutsch, Englisch und Chinesisch. Die Familie mit dem Baby ist in der englischen Gruppe. Unsere Gruppe versammelt sich. Wir gehen den heutigen Ablauf durch und bekommen alle Sicherheitshinweise. Dann nimmt sich der Guide sehr viel Zeit, um zu erklären, dass wir das Ökosystem nicht beeinträchtigen dürfen. Wir dürfen die Korallen weder anfassen noch abbrechen und auch keine Zigaretten entsorgen oder dergleichen. Die thailändische Polizei ist da mittlerweile sehr strikt. Und wenn er ein Vergehen sieht, ist er der erste, der sie ruft. Er will seinen Job gerne behalten und dafür muss es auch das Riff weiter geben.

Ich finde das sehr gut. In keiner meiner Schnorcheltouren auf der Welt wurde bisher so deutlich darauf hingewiesen. Mich dagegen regt es immer auf, wenn sich die Touristen aufführen wie die Axt im Walde. Theo würde ich was husten, wenn er einmal Korallen abbricht oder versucht, Fische zu fangen! So wie mein Vater mir damals.

9.30 Uhr

Auf mich alleine gestellt, bin ich mit Theo ganz schön beschäftigt: Überall ist dieser blöde Sand! Auf der Wickeltasche sowieso, aber auch in seinem Gesicht und dauernd in den Augen. Ins Meer rein, raus, rein, raus, Ball retten, wieder rein…

10:22 Uhr

Langsam legt sich die Angst, dass der Tag für Theo und mich zu einem schwarzen Tag wird. Mama hat frei und geht mit den Fischen schwimmen.

Auf dem Speedboot fliegen wir förmlich übers Meer. Freude kriecht von meinem Innersten hinauf, breitet sich auf meinem Gesicht aus und strahlt bis in die Fußspitzen. Bestimmt lacht Theo auch gerade, sage ich mir.

10:25 Uhr

Treffen mit Theos Großtante und Großonkel, die diese Woche auch in Khao Lak Urlaub machen. Theo bekommt einen leeren Joghurtbecher und eine volle Beschäftigung: Steine sammeln! Er ist hin und weg. “Da! Da! Da!”

10:40 Uhr

In der Ferne sehen wir Regenwolken, die sich heftig ins Meer entladen. Erinnerungen an vergangene Boots- und Schnorcheltouren, die nicht so glücklich verlaufen sind, werden wach. In Panama fühlten wir uns im Boot nasser als vorher beim Schwimmen und mussten eine Tour sogar wegen schlechten Wetters abbrechen. Hoffentlich passiert mir das heute nicht nochmal! Auf einer solchen Bootstour hätte ich Theo auf keinen Fall dabei haben wollen. Hoffentlich entfliehen wir dem Unwetter. Noch flitzen wir unbehelligt übers Wasser.

11:20 Uhr

Wir sind endlich da! Flossen und Schnorchel anziehen und ab ins Wasser! Jetzt kommt der Moment, wo sich für mich entscheidet, ob es sich gelohnt hat, Theo und Papa im Hotel zurückzulassen.

Ein beherzter Sprung ins Wasser und ich bin wieder neun Jahre alt. Es ist einfach wunderbar. Diese Farben. Diese Vielfalt der Korallen und das pralle Leben. Das Riff beachtet uns Besucher nicht, hier herrscht ein reges Treiben. Wo man hinsieht, alles blüht und gedeiht. Da sind auch meine Favoriten, die Papageienfische. Sie knabbern die Algen von den Korallen und erzeugen ein allgegenwärtiges Kratz- und Schab-Geräusch.

Es ist herrlich. Ich will gar nicht mehr raus. Sie müssen mich förmlich aus dem Wasser ziehen. Ich bin die Letzte an Bord.

11.45 Uhr

Der junge Mann wird knatschig. Wir brechen auf ins Hotelzimmer. Das erkennt er wieder, aber hier fehlt was: “ Mama! Mama!”- “Die ist bei den Fischen. Kommt heute Abend wieder.” “ Mama?” “ Bei den Fischen!” “Mama?”

12:30 Uhr

Das Mittagessen auf der Insel ist vielfältig und lässt nichts zu wünschen übrig. Mehrtagesgäste können hier in fertigen Zelten übernachten und fahren am Nachmittag in noch kleineren Gruppen raus.

Ich denke darüber nach, wie ich früher mit meinem Vater in Ao Nang geschnorchelt bin. Was ich dabei alles über das Meer und seine Bewohner lernen konnte. Dass ich es achten und bewahren muss. Damals war schon klar, dass diese Schönheit bedroht ist. Heute gibt es nur noch wenige dieser Oasen. Ich möchte sie unbedingt auch mit Theo teilen. Ich hoffe, dass dieser Ort noch bis dahin überlebt und Theo dann sehen kann, was ich heute sehe.

Wie es ihm gerade geht? Mir fällt ein, dass ich ja auf der Insel Empfang habe. Papa hat mir ein Foto geschickt. Theo schläft ganz friedlich. Wie schön.

Könnte ich vielleicht doch auf der Insel bleiben? Grübel, grübel. Nein, ich könnte nicht schlafen ohne zu wissen, dass es ihm gut geht und das Babyphon reicht nun mal nicht bis hierher und zu ihm könnte ich auch nicht. Das muss wohl warten, bis er älter ist.

Jetzt bricht aber das Netz ab. Ich unterhalte mich mit einem Pärchen aus Stuttgart und bekomme super Infos über die Insel Koh Lanta. Ich merke: Da müssen wir als nächstes hin. Sie sind ganz begeistert von unserer Elternzeitreise.

Inzwischen bekomme ich ohne Theo erste Entzugserscheinungen. Mir fehlt ein Baby zum Knuddeln. Darum spiele ich ein wenig mit den Kindern hier. Die Insel bietet viel Schatten. Theo hätte es bestimmt gefallen.

12.30 Uhr

Nach der Dusche und einem kleinen Snack schläft Theo auf dem Bett ein. Einfach so. Das macht er sonst nie. Na, ich beklage mich mal nicht… und lese ein bisschen was.

13:40 Uhr

Mittagspause vorbei. Es ist so schön hier. Es geht nun in das Dorf der Moken, die diese Insel bewohnen. Der Himmel zieht sich inzwischen zu. Keine guten Vorzeichen für die Rückfahrt.

14:00 Uhr

Ich spreche mit unserem Guide und er erklärt, dass Kinder unter drei Jahren nicht versichert sind und nur auf eigene Gefahr mitgenommen werden dürfen. Er selbst empfiehlt es nicht und weigert sich auch, Babys mitnehmen, die noch nicht den Kopf halten können. Ich bin überrascht: gibt es wirklich Leute, die auf so eine Idee kommen?

Bei Mehrtagestouren kann man besser auf die Kinder eingehen, sagt er, aber zu klein sollten sie nicht sein.

14:20 Uhr

Im Dorf der Moken gibt es überraschenderweise einen Sport- und Spielplatz. Wir erfahren, dass die hier sesshaften Moken die thailändische Staatsbürgerschaft erhalten haben und somit auch eine Schule. Sie sind damit beauftragt, den Marine-Nationalpark zu verwalten. Beim Gang durchs Dorf sehen wir viele Kinder, die gerade ihre Schulferien genießen.

Ich komme mir etwas komisch vor, so in die Privatsphäre der Menschen einzudringen. Andere haben nicht so viele Hemmungen und knipsen, was das Zeug hält. Höhepunkt dieses Fotowahns stellt der Pulk Touristen dar, die jede Ritze in der Wand und jeden Türspalt ausnutzen, um ein Neugeborenes bei seinem Mittagsschlaf zu fotografieren, bis es vom Blitzlicht aufwacht. Die arme Mutter nimmt es entnervt hoch und die Paparazzi folgen. Eine Dame sticht hervor, die ihre Kamera zückt und fragt “Can I take a Foto?”. Die Mutter nickt verdutzt und die Meute zieht weiter. Ja, so geht es auch.

14.20 Uhr

Wahnsinn. Der schläft immer noch. Muss der aber fertig sein. Vielleicht von der Hitze?

14:30 Uhr
Wir verlassen das Dorf hinter uns und gehen noch eine Runde Schnorcheln.

15:00 Uhr

Das Meer ist so wunderbar. Jeder Schnorchelort sieht anders aus, ist aber doch gleich fantastisch. Der Boden ist übersät mit gehirnförmigen Korallen. Doch leider war der Mensch nicht schlau genug, sich dieses Paradies zu erhalten. Die Surin-Inseln haben noch Glück, bis jetzt sind nur 40 Prozent des Riffs zerstört, doch ich kann die Korallenbleiche auch hier sehen. Überall auf der Welt sterben sie aus. Ich habe Angst, zur letzten Generation zu gehören, die diese Wunder noch mit eigenen Augen betrachten darf. Wird es all dies überhaupt noch geben, wenn Theo alt genug ist, dass ich es ihm zeigen kann? Ich entdecke einen Joghurtbecher und hebe ihn auf. Schnell habe ich etwas Müll zusammen und bringe ihn aufs Boot. Ein Tropfen auf den heißen Stein, aber wenigstens etwas. Schade eigentlich, dass ich in so kurzer Zeit so viel gefunden habe.

Wir fahren zurück.

15:10 Uhr

Entspanntes Aufwachen und Herumkauen auf zwei Bananenchips. Lassen wir es mal ruhig angehen.

15:40 Uhr

Wir treffen uns wieder mit Großtante und Großonkel in ihrem Hotel. Die Hotelangestellten tanzen alle um Theo herum und wetteifern um seine Aufmerksamkeit. Hat ganz schön Charme, der Kleine. Zum Glück dürfen wir dort den Pool und die Toilette benutzen, obwohl wir keine Gäste sind.

16:20 Uhr

Kleiner Konflikt mit einem etwa dreijährigen Jungen, der Theos Ball immer wieder in den Pool schmeißt, wo Theo nicht ran kommt. Großer Unmut bei Sohnemann. Dabei gibt es hier noch einen zweiten Ball. Warum können zwei Jungs nicht mit zwei Bällen auskommen?

Das ist die Kehrseite des Privateigentums: Es korrumpiert. Wir alle sind kleine Kapitalisten, es ist hoffnungslos.

Wobei: Nach zehn Minuten vertragen sie sich ganz gut…

17:00 Uhr

Die Heimfahrt war entgegen meiner Befürchtungen problemlos. Das Meer war spiegelglatt. Meine Beine spannen, als hätten sie ein Lifting bekommen. Ich klebe förmlich am Sitz fest. Als ich aufstehe, fühlt es sich so an, als hätte meine Haut es sich anders überlegt und spontan von mir gelöst, um sitzen zu bleiben. Diesen Schmerz kenne ich und ahne Böses.

Es gibt Abendessen, Duschen und Umkleiden. Ich gehe in die Dusche und muss feststellen, dass meine Beinunterseiten fuchsrot sind. Wann hatte ich mich eigentlich eingecremt? Nur einmal kurz vorm Sprung in die Tiefe. Facepalm! Dabei weiß ich es doch besser. Als Kind habe ich mir die Ohren beim Schnorcheln in der Sonne so gegrillt, dass ich Blasen hatte, die meine Mutter mit Alkohol auswaschen musste.

17.30 Uhr

Es wird Zeit, dass Mama zurück kommt. Wir sind wieder im Hotel und spielen Ball (“Bajah!”) in der Einfahrt. Sehr, sehr lange.

17.50 Uhr

Endlich fährt der Minibus vor, der sie zurück bringt. Jetzt müssen wir stolz erzählen, wie tapfer Theo heute durchgehalten hat. Und Mama muss erzählen, was sie erlebt hat. Schließlich war sie bei den Fischen.

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