Wir fahren über staubige weiße Straßen. Alle Häuser, die an uns vorbeifliegen, sehen gleich aus. Sie alle sind etwa gleich groß, haben nur ein Stockwerk, beige Wände und türkise Fenster. Und alle sind umgeben von weiten Grasflächen. Immer im Abstand von einigen hundert Metern.

Die Menschen, die uns begegnen, tragen durchweg die gleiche Tracht: Männer in karierten Hemden und dunklen Trägerhosen, Frauen in langen Kleidern, alle aus demselben gemusterten Stoff. Die Kinder sind genauso gekleidet, bis zum Strohhut. In immer neuen Parzellen rauscht immer wieder dasselbe Leben an uns vorbei, so wirkt es auf uns. Wir durchqueren eine Mennoniten Community in Belize. Eins sticht uns ins Auge: Alle sind so unglaublich blond. Hellstes Strohblond.

Wo wir sind

In der zweiten Woche unserer Reise durch Zentralamerika haben wir die Kleinstadt Orange Walk Town im Nordwesten von Belize erreicht. Das Reiseblog Geh mal reisen hat uns auf die Idee gebracht, uns in Ricky’s Guesthouse einzuquartieren und eine Tagestour in die Maya-Ruinen von Lamanai zu unternehmen.

In #OrangeWalkTown, #Belize angekommen, sind wir in Ricky’s Guesthouse abgestiegen. Super Tipp von @geh_mal_reisen Heute haben wir eine Tour in die uralten #Maya Ruinen von #lamanai unternommen, gefolgt von einem Besuch bei einer örtlichen #Mennoniten Community, die mit nur minimaler „moderner Technik“ lebt. Wir sind voller Eindrücke wieder gekommen – mehr demnächst im #Blog. Morgen legen wir einen #Ruhetag ein vor der langen, voraussichtlich nicht einfachen Fahrt an die #Küste. Theo braucht einfach etwas Ruhe. #elternzeitreise #reisenmitkleinkind #travel #travelkids #wanderlust #goexploring #familytravelblog #blogger_de #weltentdecken #Weltreisemitkind #Slowfamily #Reisenmitkind #Lebenmitkindern #Reisen

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Im April ist die Hauptsaison anscheinend schon vorbei, darum sind wir die einzigen, die sich für die Tour angemeldet haben. Die berühmte, spektakuläre Bootsfahrt nach Lamanai fällt deswegen aus. Schade, aber nicht schlimm: Vor einigen Tagen in der Lagune von Bacalar war Theo ohnehin nicht sehr erbaut vom ständigen Schaukeln und Nasswerden.

Unser Guide Amir erklärt uns, dass wir stattdessen im Geländewagen das Land der Mennoniten überqueren. Da Amir mit einigen Mennoniten befreundet – oder zumindest gut bekannt – ist, verbinden wir den Tagesausflug mit einem Besuch bei einer Mennoniten-Familie zum Mittagessen.

Unser erster Gedanke: Wir haben ja gar keine Mitbringsel oder Geschenke dabei! Wahrscheinlich wird das nicht von uns erwartet, aber immerhin sind wir bei einer fremden Familie zu Besuch. Amir rät uns zu Cola, wir kaufen unterwegs vier große Flaschen.

Wer sind Mennoniten?

In Südostasien haben wir ja schon einiges an Spiritualität beobachtet. Der Glaube der Mennoniten gehört aber zu unseren zahlreichen religiösen Wissenslücken. Wir fragen Amir ein Loch in den Bauch und durchforsten später das Internet. Hier eine kleine Zusammenfassung:

Mennoniten sind eine Konfession, die der Reformator Menno Simon im 16. Jahrhundert begründet hat. Auf der Flucht vor Verfolgung und religiöser Unterdrückung haben sich die Mennoniten schnell und früh über die Welt ausgebreitet, insbesondere in Mittel- und Südamerika finden sich heute viele ihrer Kolonien.

Ähnlich wie die Amischen in Nordamerika lehnen viele mennonitische Gemeinschaften die Neuerungen der Technik ab (z. B. Autos, Elektrizität) und ziehen sich von der modernen Gesellschaft zurück, um ein einfaches, von konservativen Wertvorstellungen beherrschtes Leben zu führen. Sie missionieren nicht, vermehren sich sozusagen nur biologisch. In Ländern wie Belize genießen sie eine Sonderstellung: Sie zahlen z. B. lediglich Grundsteuern und ihre Kinder sind von der staatlichen Schulpflicht befreit.

Ihre Lebensgrundlage sind Landwirtschaft oder Handwerk. Beides ist heute aber nicht mehr ganz ohne Technik zu haben. Damit müssen die Mennonitengemeinden sich arrangieren und dabei finden sie unterschiedlich strenge Regelungen. Während streng Konservative völlig ohne Anschluss ans Stromnetz arbeiten, verwenden Andere elektrische Geräte zur Arbeit oder “sogar” im Haushalt. “Modernere” Mennoniten fahren Autos, traditionellere dagegen nehmen die Pferdekutsche. Hier in Orange Walk ist die Tradition noch hoch geschätzt. Wir sehen viele Pferdekutschen auf dem Weg, mehrere Traktoren haben Stahl- statt Gummireifen.

Woher genau kommt diese Skepsis gegenüber der Technik? Sie hat nicht zuletzt eine Schutzfunktion für die Gemeinschaft, in der der mennonitische Entwurf ausgelebt wird. Wer Telefone und Computer bedient, verbindet sich mit der Welt außerhalb – und ist sozusagen nicht mehr ganz “drinnen”. So erklären sich auch die Metallreifen: Gefährte mit Gummireifen könnten nämlich “missbraucht” werden, um in die “Außenwelt” auszubrechen. (Mehr dazu in dieser aufschlussreichen National Geographic Dokumentation)

Plötzlich fremd

Die Sonne brennt, es ist staubig und um uns herum ist nur Weideland mit sehr vereinzelten Bäumen. Immer noch die gleichen Hausfassaden. Die Pferde und Rinder sehen gepflegt und wohl genährt aus. Wir fahren an spielenden Kindern und Pferdekutschen vorbei. Niemand winkt oder lächelt zurück, obwohl wir durchaus neugierig beäugt werden.

Nirgends in Belize sind wir so fremd wie dort, wo die weiße Minderheit lebt. Wir versuchen, uns das Leben hier vorzustellen.

Ein nachhaltiges Leben?

Unser erster Gedanke: Ist das nicht ein bemerkenswert nachhaltiger Lebensstil? Minimaler Energieverbrauch, Produkte allein aus eigener Erzeugung oder aus der Region, Familienbetriebe… Führen die Mennoniten “hier draußen” nicht genau das Leben, das wir alle eigentlich führen müssten, um den Planeten und unsere Mitmenschen zu schonen?

Wir lassen uns alles von Amir erklären, der schon lange in regelmäßigem Kontakt mit Mennoniten steht. Es stellt sich heraus: In Wahrheit ist alles etwas komplizierter. Tatsächlich produzieren die Mennoniten 70% aller Lebensmittel auf dem belizianischen Markt. Die Arbeit im Familienbetrieb ist straff organisiert, für unangenehme Arbeiten werden Leute aus den vielen anderen Volksgruppen angestellt (so stellt Amir es jedenfalls dar). Der Ertrag bleibt zum größten Teil in der Community.

Wie es scheint, sind auch hier wieder die Weißen die Reichen. Wir wollen verstehen, wie das kommt.

Was passiert mit dem erwirtschafteten Profit? Wenn man davon weder Smartphones kauft, noch Weltreisen bucht oder Online-Banking betreibt? Er wird reinvestiert, und zwar in den kauf von neuem Land. Genauer gesagt wird Land mit Regenwald gekauft und anschließend gerodet. Mit allen bekannten Folgen für Klima und Umwelt.

Abgebrannter Dschungel ist kurzzeitig sehr fruchtbarer Boden, aber um die Produktion zu halten, benötigt man immer mehr Land. Und die Familien benötigen das Land alleine schon für ihre vielen Kinder, die dasselbe Leben ja weiter führen werden.

Fest steht: Es ist, wie immer, kompliziert…

Max Weber als Maya-Tourist

Die Landschaft zieht weiter am Fenster des Jahrzehnte alten Geländewagens vorbei und wir kommen ins Reden und ins Grübeln. Selbst hier, im scheinbar einfachen Landleben, stellt sich also die Frage nach Wachstum und Ressourcen. Warum ist das so?

Zum Verständnis hilft vielleicht ein kleiner Seitenblick in die Soziologie. Max Weber hat die Entstehung der heutigen Marktwirtschaft in seinem berühmten Buch Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus auf religiöse Gründe zurückgeführt. Der evangelische Glaube – zu dem im weiteren Sinne auch die Mennoniten gehören – versteht den “Beruf” als “Berufung”: Der Mensch muss diszipliniert arbeiten, um sich im Diesseits zu bewähren. Gleichzeitig wird ein hohes Maß an Bescheidenheit verlangt. Das Geld, das der Protestant erarbeitet, darf er nicht im großen Stil verprassen.

So entsteht ein immer größerer Haufen an Geld, der irgendwohin muss. Er wird neu ins Geschäft investiert und erzeugt dann wieder mehr Geld: das Kapital. Das “Wachstums”-System braucht also keine Fabriken und keine Investmentbanker. Es braucht nur brave Gläubige. (Für mehr Infos über Max Weber empfehlen wir den Soziopod)

Viele Fragen fallen uns noch zu den Mennoniten ein. Bevor wir bei ihnen zum Essen eingeladen sind, besichtigen wir die Ruinen der alten Maya-Stätte Lamanai. Amir hat die Lizenz-Nummer 1, er ist also der erste jemals hier ausgebildete Touristenfūhrer und weiß eine Menge zu erzählen. Auch über das Ende der großen Maya-Städte: Möglicherweise ist die Bevölkerung zu schnell gewachsen, hat zuviel Land gerodet dadurch die Ressourcen erschöpft und folglich mussten die Siedlungen aufgegeben werden. Erst über die Jahre hat sich der Wald die Mayastätten zurück erobert.

Da ist es wieder, das Thema „Wachstum versus Ressourcen“. Im Dschungel besichtigen wir seine Folgen, während um uns herum schon wieder Dschungel gerodet wird – für das Wachstum. Wozu natürlich auch eine wachsende Tourismus-Industrie gehört, Europäer, die Unmengen an Sprit verbrauchen, um zu untergegangenen Kulturen zu pilgern und dort wiederum über die Gefahren des Wachstums zu grübeln. Es kann einem fast schwindlig werden, wenn man so drüber nachdenkt…

Langsames Vortasten

Gegen Mittag sind wir von unserer Lamanai-Tour zurück und halten vor dem Haus der Mennoniten-Familie, bei der wir heute zum Essen einkehren.
Gegenüber vom Wohnhaus ist die Tischlerei, wo jede Woche etwa zwölf Betten auf Bestellung gefertigt werden – größtenteils in Handarbeit. Die Drechsel summt, der Geruch von Lack liegt in der Luft und den Boden bedeckt eine dicke Schicht Sägemehl. Gut genährte Pferde grasen hinter der Tischlerei – ein Zeichen für Wohlstand.

Wir steigen aus und fühlen uns erst einmal verunsichert. Wie sollen wir uns verhalten, was gilt als höflich, was ist unpassend? Stimmt es, dass wir uns mit ihnen auf Deutsch unterhalten können? Fest steht: Wir fotografieren und filmen nicht im Zuhause Anderer, gerade hier nicht. Das würden wir selber als unhöflich empfinden. Und eins geht uns vor allem durch den Kopf: Wird Theo sich auch benehmen? Im Moment schläft er noch, aber wenn er in einer Traube fremder, neugierig Menschen aufwacht, reagiert er unter Umständen gestresst. Gibt es hier einen Benimm-Code für Zweijährige?

Ein junger, strohblonder Man mit breitem Lächeln kommt auf uns zu. Jakob, der älteste unverheiratete Sohn der Familie, begrüßt uns freundlich in recht gut verständlichem Hochdeutsch. Das wäre geschafft.

Diese Mennoniten sind ursprünglich norddeutsche Auswanderer. Untereinander sprechen sie eine ältere Form von Plattdeutsch, in der Schule lernen sie ein Hochdeutsch, das unserem recht nahe kommt, nicht zuletzt, um die Bibel lesen zu können. Die Männer sind für die Verständigung mit der Außenwelt zuständig und sprechen meist auch Spanisch und Englisch.

Wir versuchen ein wenig Small Talk, bis wir hinein gebeten werden. Wir betreten das Esszimmer, stellen uns der Mutter des Hauses vor und stehen zunächst etwas unbeholfen herum. Für einen Mittelpunkt des Familienlebens ist der Raum spartanisch eingerichtet: blanke Wände, keine Bilder, keine offenen Regale. Nur die breite Küchenzeile und ein riesiger Holztisch. Einige Mädchen, zwischen etwa 10 und 16, beobachten uns scheu, wir lächeln unsicher zurück.

Am Mittagstisch

Der Tisch ist noch praktisch leer, bis wir uns irgendwann trauen, am unteren Ende Platz zu nehmen. Theo ist erst vor kurzem aufgewacht. Er ist noch ein bisschen tapsig, benimmt sich aber zum Glück “anständig”. Woran man als Eltern so denkt, wenn man sich plötzlich “in der Fremde” fühlt…

Wir bekommen Nudeln und Getränke serviert. Und fühlen uns immer noch unsicher: Kommt noch jemand? Sollen wir noch warten?

Schließlich trauen wir uns, zuzuschlagen. Und tatsächlich findet sich mit der Zeit auch ein Großteil der Familie ein. Natürlich nicht Alle, denn das wären: Vater, Mutter und elf (!!!) Kinder.

Nach und nach kommt mehr auf den Tisch: Obst, Weißbrot, Wurst, Marmelade. Es folgt ein ungezwungener Austausch über die hoch- und plattdeutsche Aussprache von “Marmelade”.

Die Verständigung ist nicht ganz einfach, aber mit Wohlwollen und Geduld auf beiden Seiten kommt mit der Zeit ein munteres Gespräch zustande. Nicht immer können wir ganz sicher sein, verstanden zu werden. Und unsere vielen Fragen zum mennonitischen Glauben werden wir heute wohl nicht los. Politik und Religion sind einfach nicht mehr das erste Gesprächsthema, wenn man den Anderen zum ersten Mal persönlich gegenüber sitzt. Warum auch.

Das gemeinsame Vokabular reicht aber immerhin für das Thema “Schweine- und Rinderzucht in Deutschland”. Unsere Gastgeber zeigen reges Interesse. Und uns fehlt hier zwar jede Expertise, aber wir können immerhin sicher sagen, dass auch da, wo wir herkommen, Schweine gezüchtet werden.

Theo entwickelt Gefallen an der Wurst und bekommt postwendend Nachschub. Nach dem dritten Stück Wurst taut er weiter auf und bringt fleißig Reste und Verpackung in den Mülleimer. Ja, erklären wir, wir haben tatsächlich nur ein einziges Kind.

Dann bringt uns die Frage nach unseren Berufen in Verlegenheit. Unter “Lehrer” kann man sich hier sicher etwas vorstellen, aber was fängt jemand, der nicht mal ein Telefon besitzt, wohl mit dem Titel “Social Media Managerin” an? Andererseits: Wir erspähen immerhin einen Kühlschrank im Nebenraum. In der Tischlerei, wo wir anschließend die routinierteste Handwerkskunst bestaunen dürfen, gibt es ebenfalls elektrisch betriebene Maschinen. Schlussendlich entgegen wir das Anne im Büro mit Computern arbeitet.

“Mennonitische Handarbeit” ist jedenfalls ein Qualitätsmerkmal. Im kleinen Schuppen neben der Tischlerei stapeln sich schon die Bettgestelle. Sie erinnern uns an die Wohnungen unserer eigenen Großeltern: dunkle Farben, geschwungene Formen.

Anne interessiert sich für die häusliche Nähmaschine. Daraufhin werden ihr die Handarbeitsprojekte der häuslichen Damen gezeigt. Alle Kleidung, Topflappen, Bettvorleger, Puppen Kleidung usw stellen sie in mühevoller Heimarbeit selber her. Jakobs Mutter zeigt stolz eine Patchwork Tagesdecke fürs Bett, an der sie arbeitet. Sie möchte eine für jede Tochter nähen, als Hochzeitsgeschenk. Wenn einem kein Youtube Tutorial, keine Blogs und nicht einmal die Volkshochschule zur Verfügung stehen, muss man früh das ganze Können und Wissen der eigenen Gemeinschaft aufsaugen. Sonst sind die eigenen Möglichkeiten sehr begrenzt.

Theo darf auch auf der Pferdekutsche mitfahren, einmal in den nächsten Laden und zurück. Ihm hat es besonders der Papagei angetan, der seit Jahren in einem Busch vor dem Haus der Familie lebt. So einen Vogel sieht man ja nicht alle Tage. Theo darf ihn einmal auf dem Arm halten. Seitdem hat der “kakagei”, wie er ihn nennt, es ihm angetan.

Nachdem einer kurzen Führung durch die Tischlerei und weiterem Smalltalk wird es Zeit zu gehen. Jakob eröffnet uns noch das er verlobt ist und jetzt ein Haus bauen will, um zu heiraten. Drei Gelegenheiten für Geschenke. Wir verabschieden uns und fahren zurück in nach Orange Walk. Sollten wir Ihnen ein kleines Geschenk aus Deutschland schicken? Amir meint, sie würden sich über deutsche Bücher freuen, weil sie so wenig Zugang zu deutscher Literatur haben. Wir grübeln weiter: Was könnte das sein, welches Buch wäre geeignet…?

Um solche Begegnungen mit Menschen aus einer ganz anderen Welt zu machen und etwas über uns und die Menschen an sich zu lernen, gehen wir auf Reisen. Wir beschäftigen uns noch eine ganze Weile mit dieser Begegnung und nehmen uns vor, ihnen etwas aus Deutschland zu schicken.

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